Als im Sommer 2015 die Flüchtlingszahlen europaweit steigen, haben sich die Jugendämter mit der Bitte um Hilfe bei der Unterbringung und Betreuung von Unbegleiteten Minderjährigen Ausländern (UMA) neben anderen Trägern auch an die BruderhausDiakonie gewendet. Hashem Ahmadi (21) aus Afghanistan hat in Reutlingen eine Zukunft gefunden. Als er 2016 mit seinem jüngeren Bruder nach einer Flucht über die Türkei und Griechenland nach Deutschland kam, fehlte jede Spur von den Eltern und Geschwistern. Erst in einer Wohngruppe der BruderhausDiakonie erfährt Hashem Halt. „Mir hat viel geholfen, dass ich da meine Geschichte und Gefühle erzählen konnte“, sagt er. In der Wohngruppe und später im Betreuten Wohnen erhält er Hilfe für die Schule und bei Behördengängen. Inzwischen konnten die Eltern ausfindig gemacht werden. Hashems Bruder lernt Bauzeichner und Hashem hat seine Lehre zum Optiker abgeschlossen. „Es war schwer“, er würde den Weg nicht noch einmal machen, erzählt Hashem, aber er hat es geschafft.

Mehr als 100 junge Geflüchtete in Wohngruppen der BruderhausDiakonie

„Über Nacht mussten neue Dienstpläne erstellt und eine Infrastruktur für Wohnen, Schule und Ausbildung geschaffen werden“, erinnert sich Constance Hosp, Bereichsleiterin in der Reutlinger Oberlin-Jugendhilfe der BruderhausDiakonie. Jugendliche, die furchtbare Fluchterfahrungen hinter sich hatten, sollten eine neue Heimat in den Wohngruppen der BruderhausDiakonie finden. „70 Unbegleitete Minderjährige Ausländer (UMA) wohnten zu Hochzeiten in vier neu gegründeten Flüchtlingswohngruppen der Oberlin-Jugendhilfe, eingestreut in den regulären Wohngruppen und im Betreuten Jugendwohnen“, so Constance Hosp. Weitere junge Geflüchtete - mehr als 100 junge Menschen aus  mehr als zehn Ländern - wurden in Wohngruppen in Nürtingen, Freudenstadt und Deggingen untergebracht. „Dinge, die für uns selbstverständlich waren, wurden von diesen Menschen als kostbar erlebt. Bildung, Versorgung mit ausreichendem Essen“, beschreibt Nele Müssigmann, die den stationären Bereich des Jugendhilfeverbunds Kinderheim Rodt leitet, rückblickend ihre Eindrücke. Dennoch „Integrationsarbeit ist kein Honigschlecken“.

Kreative Lösungen und Netzwerke ermöglichen einen guten Start

Das Zusammenleben in den Wohngruppen, wo verschiedene Welten aufeinanderprallen, verschiedene Wertvorstellungen sowie unterschiedliche kulturelle und religiöse Identitäten sind bis heute eine Herausforderung. Hinzu kommen die Fluchtgeschichten der Jugendlichen, schwierige Asylverfahren, Sorgen um die zurückgebliebenen Familien, das Heimweh, Verständigungsschwierigkeiten und die Anforderungen an eine schnelle Integration. „Wir haben mit den Traumata gearbeitet, alleine oder mit Therapeuten“, berichtet Markus Seibold, Bereichsleiter Oberes Filstal/Geislingen bei den Jugendhilfen Deggingen. „Wir mussten kreativ sein beim Vermitteln der Sprache, hatten überall Post-Ist, auf Fenstern, Türen, Griffen, am Spiegel.“ Nur ein gut ausgebautes Netzwerk sowie Kooperationen des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration mit Schulen, Volkshochschulen, Sportvereinen, Therapeuten und Pädagogen ermöglichten ein erfolgreiches Ankommen der Jugendlichen.

Sprachkurse und Freizeitangebote fördern Gemeinschaft und Selbstbewusstein

Neben Alphabetisierungs-, Deutsch- und Berufsvorbereitungskursen wurden zahlreiche von der Jugendhilfe initiierte Freizeitprojekte ins Leben gerufen, bei denen sich die geflüchteten Jugendlichen mit ihren individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen einbringen konnten. Musikbands mit Musik aus unterschiedlichen Nationen wurden ins Leben gerufen, Fußballturniere ausgerichtet, Fahrradwerkstätten eingerichtet und Kanufahrten veranstaltet. Hier konnten die Jugendlichen, die auf sich allein gestellt waren, neues Selbstbewusstsein tanken und sich sozial engagieren. „Es ist bemerkenswert, wie wenig sich Ziele, Träume und Wünsche junger Geflüchteter von den jungen Menschen, die hier aufgewachsen sind, unterscheiden, und doch könnten die Ausgangsbedingungen unterschiedlicher nicht sein“, sagt Ulrike Haas, Leitung Geschäftsfeld Jugendhilfe der BruderhausDiakonie.

Integration schafft Zukunft für alle

Im Rückblick fällt vor allem eines auf: Zu einer gelingenden Integration gehört neben Toleranz, Akzeptanz und Offenheit auch der Mut zu kreativen und unkonventionellen Lösungen. Dr. Tobias Staib, Fachlicher Vorstand der BruderhausDiakonie, würdigt die dafür notwendige Integrations-Arbeit der Teams: „Die jungen Menschen wurden willkommen geheißen und mit viel Engagement und von ganzem Herzen unterstützt und aufgenommen.“ „Es gab Alphabetisierungen, Schulabschlüsse und Ausbildungen, echte und Möchtegern-Fußballstars, bevölkerte Fitnessstudios, Hobbymusiker“, zieht die Reutlinger Bereichsleiterin Constance Hosp ein Fazit. „Unser Jugendlichen lernten Bäcker, wurden Optiker, Bauzeichner, Altenpfleger, Herrenschneider, Köche, Elektriker und vieles andere mehr. Es gab erfüllte und enttäuschte Hoffnungen und viele gute, individuelle Lösungen.“ Aus heutiger Sicht, sagt sie, schaffe Integration nicht nur eine Zukunft für die jungen Geflüchteten, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Autorin: Marianne Mösle