Eine große Höhle mit mehreren Ein- und Ausgängen: So muss ein Ort wohl aussehen, an dem jemand unter dem Schutz der Anonymität hereintreten kann, wo man seine persönlichsten und privatesten Probleme und Krisen schildern kann. In einem Geschäftshaus in der Bahnhofstraße 15 in Eislingen an der Fils befindet sich eine solche „Höhle“: Im September vergangenen Jahres ist dort im zweiten Stock die Offene Sprechstunde für Kinder, Jugendliche und Eltern eingerichtet worden. „Niedrigschwellig“, das ist das Zauberwort für dieses von der Stadt in Kooperation mit den Jugendhilfen Deggingen der BruderhausDiakonie ins Leben gerufene Angebot. Der Bedarf ist groß. „Wir merken schon an der Intensität der Fallbearbeitung, dass die Zeit immer knapp ist. Mit einem Gespräch allein ist es meist nicht getan“, sagt Ingrid Hinzel-Hees, die mit ihrer Kollegin Susanne Lehmann, die Offene Sprechstunde leitet.

Jungen Menschen fehlt eine Perspektive

Schon während der Corona-Pandemie haben Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung einen „erhöhten Beratungsbedarf“ als Folge von Lockdowns und fehlenden sozialen Kontakten bei Kindern und Jugendlichen gemeldet: „Es wurde festgestellt, dass viele Schülerinnen und Schüler durch die Pandemie an Perspektivlosigkeit und fehlender Lebensmotivation litten“, sagt Klaus Heininger, Oberbürgermeister der Stadt Eislingen. Die Stadt entschloss sich zum Handeln und eröffnete die Offene Sprechstunde. Der jüngste Klient ist elf, die ältesten unter den Jugendlichen sind Anfang 20 und haben nach dem Abitur mit psychisch-mentalen Problemen zu kämpfen oder Anpassungsschwierigkeiten nach der Pandemie. „Wir vermitteln denen, wir sind für dich da“, sagt Susanne Lehmann.

Kinder und Jugendliche leiden unter Ängsten

Soziale Ängste, Schulängste, immense Fehlzeiten in der Schule, familiäre Probleme, depressive Verstimmungen oder Unsicherheiten der Persönlichkeitsfindung gehören zum Spektrum der Beratung der Offenen Sprechstunde. „Wir merken oft schnell, dass wir die Eltern mit ins Boot holen müssen“, sagt Susanne Lehmann. Und das klappe erstaunlich gut. Selbst zunächst zögernde Väter trauten sich in die Bahnhofstraße 15, die eben nicht den Charakter einer Praxis habe. Corona trägt viel Schuld an der psychischen Belastung. So war der Rückzug ins Innere oder Private im Lockdown zwar das Gebot der Stunde, aber einige sitzen immer noch in dieser Falle.

Jugendliche ziehen sich mental zurück  

„Wir haben 15-, 16- oder 17-Jährige, die kommen mit dem System nicht mehr klar“, sagt Ingrid Hinzel-Hees, die im Hauptberuf als Schulsozialarbeiterin an einem Eislinger Gymnasium arbeitet. Ein Beispiel sei der Fall einer Jugendlichen, die sich angesichts einiger familiärer Probleme „in eine Fantasiewelt hineinträumt“ und dadurch die Schule schleifen lässt. In dieser Fantasiewelt lebe es sich besser, glaube die Betroffene. Im Fachjargon heißt das „mal-adaptives Tagträumen“, wobei gegen Tagträume nichts einzuwenden sei. Wenn diese allerdings zum kompletten mentalen Rückzug führten, sei das kritisch.

Wissen aus dem Netz ersetzt keine Beratung

Erstaunlich findet Susanne Lehmann, dass viele Kinder und Jugendliche bereits mit im Netz ergoogelten Eigendiagnosen in die OS kommen. Das Wissen aus dem Netz hilft in Lebenskrisen aber nur bedingt weiter, sind sich die beiden Sozialpädagoginnen einig. Sie haben jeweils mehr als 30 Jahre Berufserfahrung und ihre Methoden, um Probleme zu lösen. Susanne Lehmann: „Wir gehen wertschätzend vor. Wir schlagen keine Lösungen vor, wir erarbeiten sie zusammen.“ So frage man die Klienten: „Wo willst du hin? Wo brauchst du Unterstützung? Was kannst du selbst tun? Wo sind Ressourcen in deiner Familie, deiner Schule, dem Lebensalltag?“ Man gehe mit kleinen Schritten voran. Ein Jugendlicher, der frustriert – „alles langweilig“ – aus den Ferien zurückkomme, werde gefragt, ob es denn nicht doch einen positiven Moment gegeben habe: Und ja, den gab es doch, beispielsweise den Ausflug in die Natur oder das Billardspiel mit Freunden.

Strategien gegen Prüfungs- und Versagensängste entwickeln

Auch Prüfungs- und Versagensängste, gerade in der Oberstufe, gehören in der Sprechstunde zum Alltag. Angst gehöre zum Leben dazu, sagt Ingrid Hinzel-Hees, aber wenn sie einen Menschen hemme, brauche man eine Strategie. „Wir machen dann eine Liste: Was kann ich tun? Habe ich mein Lernpensum erfüllt, Hausaufgaben und Tutorials erledigt?“ Sei das alles abgehakt, könne man vor der Prüfung zu Atemübungen und Entspannungstechniken greifen. Eine genaue Statistik über ihre Fälle führen die Sozialpädagoginnen nicht. Aber sie sagen, dass für die Betroffenen pro Sitzung ein ein- bis anderthalbstündiges Gespräch mit „ungeteilter Aufmerksamkeit“ angemessen sei. Sie schätzen, dass sie 40 bis 50 Prozent ihrer Klienten eine klinisch-therapeutische Behandlung empfehlen, wobei sie die Wartezeit bis dahin – oft ein halbes Jahr – mitunter in der Sprechstunde überbrücken. Und sie schätzen, dass rund 60 Prozent der Offenen Sprechstunde Kinder und Jugendliche und 40 Prozent Eltern sind.

Offene Sprechstunde bietet Chance für Kinder und Jugendliche

Susanne Lehmann, die hauptberuflich im Kinder- und Jugendbüro der Stadt Eislingen arbeitet, sagt über ihren Beruf, es sei eine Freude zu sehen, wie sich „in der Zusammenarbeit“ Menschen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen könnten. Die Offene Sprechstunde – sie kostet die Stadt Eislingen im Haushaltsjahr 2023 rund 18.000 Euro Personalkosten – ist zunächst auf ein Jahr befristet. Aber als sie kürzlich dem Gemeinderat von der OS berichteten, so Lehmann und Hinzel-Hees, da hätten sie doch positive Signale gehört, dass die Maßnahme verlängert werden solle.

Autor: Christoph Link