Herausforderungen

Eine komplett vermüllte Wohnung hat bei einem 43-jährigen Patienten mit paranoider Schizophrenie ein so großes Schamgefühl ausgelöst, dass er den aufsuchenden Therapeuten und Pflegekräften nicht immer die Tür öffnet. Kurze Kontakte bis 15 Minuten sind mit dem Mann möglich, den Aufenthalt in einer Klinik verweigert er. Von dieser und anderen Herausforderungen für Patienten und Mitarbeiter/innen bei Akutbehandlungen im häuslichen Umfeld berichtete Dr. Anja Stempfle, Leiterin der Tagesklinik Ravensburg-Weissenau bei der Fachtagung in Zwiefalten am 6. Oktober. „Manche Patienten halten es nicht aus, wenn das Zuhause zum Behandlungsraum wird. Auch damit müssen wir umgehen können“, betonte sie. Im Mittelpunkt der Veranstaltung des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg in Zwiefalten (ZfP) und der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Reutlingen  (PP.rt) stand die Rolle aller Beteiligten bei aufsuchender Hilfe. Rund 100 Teilnehmer kamen zu der Tagung, darunter psychiatrische Fachkräfte und Angehörige psychisch erkrankter Menschen. Leitmotiv der Tagung war: Der helfende Gast – Rollenfindung in der aufsuchenden Psychiatrie.

Multiprofessionelles Team

„Ist es aufgeräumt oder chaotisch? Man bekommt innerhalb weniger Tage Einblicke in das häusliche Umfeld Betroffener, die man in der Klinik so nicht bekommen würde“, machte Stempfle deutlich. Auch das sei ein Vorteil der Behandlung im häuslichen Umfeld. Marion Krieg, Bereichsleiterin der Sozialpsychiatrischen Hilfen Reutlingen, schilderte am Fall einer jungen Frau, wie diese nach akuten Krisen mit aufsuchender Hilfe eines multiprofessionellen Teams Schritt für Schritt wieder am Alltag teilnehmen konnte. Durch die Unterstützung konnten auch die Kinder in der Familie bleiben. „Die Mitarbeiter waren in dieser Zeit wie ein Fels in der Brandung“, zitierte Krieg die junge Frau, die von Depressionen betroffen ist und inzwischen wieder halbtags arbeiten kann.

Angehörige einbeziehen

Ein Vater eines 41-jährigen Sohnes, der daheim bei seiner Familie wohnt, appellierte an die anwesenden Fachleute, auch die Angehörigen anzuhören und zu beraten. „Wir finden ja kaum eine Rolle. Als Angehörige stehen wir einsam im Wald. Ich habe die Hoffnung, dass wir mit dem Ausbau der aufsuchenden Hilfe künftig mehr einbezogen werden.“ Könne man dafür eine Strategie entwickeln, sei allen geholfen. „Das Leiden der Betroffen ist ja genau so groß wie das der Angehörigen“, betonte er. Er sehe auch Probleme, wenn der Therapeut in die Wohnung komme, denn dabei sei ja auch die Privatsphäre betroffen.

Die Rolle des Klienten als Gastgeber

Andrea Krainhöfer, Leiterin der Sozialpsychiatrischen Hilfen Reutlingen-Zollernalb, wies darauf hin, dass es wichtig sei, die Rollen aller Beteiligten zu klären. Sowohl auf Seite der aufsuchenden Helfer als auch auf Seite der Klienten: „Wenn man längere Zeit zu jemandem nach Hause kommt, muss man einen Umgang finden. Dazu gehört auch, die sozialen Beziehungen des Patienten zu ergründen.“ Auf diese Weise könne man miteinander in einen guten Kontakt kommen.

„Wir betreten die Räume der Betroffenen als Gast“, machte Dr. Günter Meyer aus Berlin deutlich. „Die Pflegekraft muss sich der Hausordnung des Gastgebers stellen“, so der Vorstand der Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege. Der Begriff „Gast“ habe in diesem Zusammenhang durchaus eine Berechtigung. Er eigne sich auch, um sich von der stationären Pflege abzugrenzen.

Über die guten Erfahrungen mit der Behandlung akut psychisch Kranker zu Hause am Beispiel Krefeld, berichtete Dr. Andreas Horn, Direktor der dortigen Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Kliniken. „Wir haben festgestellt, dass die Zufriedenheit der Patienten und Angehörigen deutlich höher ist als bei einem stationären Aufenthalt.“ Auch aus fachpflegerischer Sicht höre er immer wieder, es sei schön, so viel Hilfe geben zu können.

Foto: Raphaela Weber