Weiteren Teil der Heimgeschichte wissenschaftlich aufgearbeitet
Historiker stellt Publikation über das von der Stadt Stuttgart und der Gustav Werner Stiftung betriebene Beschäftigungs- und Bewahrungsheim vor.
„Arbeitsscheu, verwahrlost, gefährdet – Zwangseinweisungen Asozialer in die Arbeitslager der Stadt Stuttgart und der Gustav Werner Stiftung“ lautet der Titel der aktuellen wissenschaftlichen Publikation, verfasst von Historiker Dr. Sebastian Wenger, Institut für Geschichte der Medizin des Bosch Health Campus Stuttgart. Am 27. September 2024 informierten in einer Gedenkveranstaltung in Münsingen-Buttenhausen Dr. Tobias Staib, Fachlicher Vorstand und Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie, und Prof. Dr. Bernhard Mutschler, Theologischer Vorstand der BruderhausDiakonie, sowie Dr. Sebastian Wenger über die Ergebnisse des Buches.
Zwangseinweisungen fanden ab 1934 statt
Der Gesamtvorstand der BruderhausDiakonie hatte im Herbst 2021 die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in Auftrag gegeben. Im Mittelpunkt des Buches stehen Einweisungen von Menschen in das Beschäftigungs- und Bewahrungsheim der Gustav Werner Stiftung und der Stadt Stuttgart ab 1934 – zunächst in Göttelfingen im Schwarzwald, was bald wieder beendet wurde, und ab 1935 in Münsingen-Buttenhausen. Bereits vor elf Jahren, 2013, hatte der BruderhausDiakonie-Vorstand Inhalte der Heimgeschichte 1945 bis 1970 als Buch veröffentlicht. Die Autorin Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach hatte hier bereits die Zwangseinweisungen von Menschen in das von der Stadt Stuttgart und der Gustav Werner Stiftung betriebene Beschäftigungs- und Bewahrungsheim beschrieben. Mit weiteren Archivalien aus sieben Archiven liegt nun eine Bearbeitung des Themas im Detail vor.
Bundesverfassungsgerichtsurteil beendete die Zwangsbewahrung
Dr. Tobias Staib sagte in der Veranstaltung im Saal der BruderhausDiakonie in Münsingen-Buttenhausen zum Buch: „Wissenschaftlich fundiert beschreibt Dr. Wenger, dass vor allem Menschen aus dem Raum Stuttgart und Frankfurt am Main, die als arbeitsscheu und/oder ‚asozial‘ galten, im Beschäftigungs- und Bewahrungsheim Buttenhausen ‚bewahrt‘ und zur Arbeit verpflichtet worden sind. Verantwortliche der Gustav Werner Stiftung haben die Zwangsarbeit sozial schwacher Personen vor Ort inklusive Strafen bei Nichtbefolgung mitverantwortet. Sie haben den Abtransport von Insassen in das Polizeigefängnis Welzheim in Kauf genommen. Einige wurden von dort aus weiter in Konzentrationslager überstellt.“ Nach Kriegsende sei die Praxis, Personen aus Frankfurt am Main zu gewinnen und zur Arbeit zu verpflichten, fortgeführt worden, ab 1959 von der Haus am Berg gGmbH. Die fürsorgerische Zwangsbewahrung sei schließlich 1967 vom Bundesverfassungsgericht untersagt worden.
Der Gesamtvorstand entschuldigt sich bei den Opfern
Prof. Dr. Bernhard Mutschler entschuldigte sich öffentlich stellvertretend für den Gesamtvorstand. „Als Vorstand bekennen wir: Unsägliches Leid ist in jenen Jahren auch durch unsere Organisation über zahlreiche Menschen gebracht worden. Wir sind entsetzt und beschämt. Wir bitten alle Opfer von Gewalt um Verzeihung. Was geschehen ist, bedauern wir sehr.“ Bis 1945 sind rund 1600 Personen in Buttenhausen untergebracht gewesen.
Menschen wurden selektiert
Dr. Sebastian Wenger schilderte in seinem Vortrag, dass im Zuge der Machtübergabe am 30. Januar 1933 Arbeit und Leistungsbereitschaft zu Selektionskriterien geworden seien. „Sie bestimmten über die Zugehörigkeit zu der von den Nationalsozialisten propagierten Volksgemeinschaft. Die Prämisse, dass die vom Staat aufgewendeten Mittel für ‚biologisch Minderwertige‘ zu hoch seien und eine Umverteilung zu Gunsten der erbgesunden deutschen Familien stattfinden müsse, habe Zustimmung bei Fürsorgeexperten, Medizinern, der Justiz sowie der Politik ausgelöst“, fasste Wenger zusammen. Dadurch sei bei der kommunalen Fürsorge das Bedürfnis entstanden, die „sozialschwierige“ und „gemeinschaftsschädliche Klientel“ zu verwahren. Rechtliche Grundlagen dafür seien bereits in der Weimarer Republik erlassen worden. Hinzu gekommen sei die seit 1906 im Bürgerlichen Gesetzbuch festgehaltene Anordnung einer gerichtlichen Entmündigung. Die kommunale Fürsorge habe somit über ein breites Instrumentarium sozialdisziplinarischer Maßnahmen verfügt, um gegen „arbeitsscheue“, „asoziale“ sowie „verwahrloste“ minder- und volljährige Klientinnen und Klienten vorzugehen, verdeutlichte Wenger. In diesem Zuge sei es zum Aufbau geschlossener Einrichtungen gekommen, in denen Kommunen legale und halblegale Formen der Bewahrung gegen „Arbeitsscheue“ und „Asoziale“ durchsetzten. „Die handelnden Akteure in Politik, Fürsorge und Medizin haben die Definition des Begriffs immer wieder an ihre Zwecke angepasst“, beschrieb Wenger.
Wie 1933 in Stuttgart alles begann
Prof. Dr. Roland Müller, Honorarprofessor am Historischen Institut der Universität Stuttgart und ehemaliger Leiter des Stadtarchivs Stuttgart, nahm in seinem Beitrag Bezug auf die Publikation „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“. Mit der Umschaltung im Stuttgarter Rathaus habe der damalige Leiter des Wohlfahrtsreferats der Stadtverwaltung im Sommer 1933 verkündet: „Der neue Staat ist Arbeitsstaat und kein Wohlfahrtsstaat.“ Mit einem Erlass aus dem Jahr 1937, wonach auch derjenige verhaftet werden konnte, der durch sein asoziales Verhalten die Gemeinheit gefährdete, führte Müller aus, „konnte das Wohlfahrtsamt so viele Personen nach Buttenhausen schicken, wie dort im landwirtschaftlichen Betrieb notwendig waren".
Heute sind Schutzkonzepte implementiert
Im Gespräch mit Zuhörerinnen und Zuhörern beantwortete BruderhausDiakonie-Vorstand Prof. Dr. Mutschler unter anderem die Frage: „Welche Konsequenzen ziehen wir aus dem, was geschehen ist?“ Mit der Veröffentlichung der Heimgeschichte 2013 habe die BruderhausDiakonie ein Gewaltschutzkonzept erarbeitet und stiftungsweit implementiert. Vorgaben zum Handeln seien Teil des Gewaltschutzkonzepts, erläuterte er. Einrichtungsbezogen und an Zielgruppen orientiert werde das Konzept kontinuierlich weiterentwickelt. Für Menschen mit Anliegen zu ihrer Heimgeschichte gebe es eine feste Ansprechpartnerin in der BruderhausDiakonie. Eine Gesprächsbereitschaft sei immer da, schloss Mutschler. Ulrike Haas, Geschäftsfeldleitung Jugendhilfe, ist Ansprechpartnerin für Anliegen zur Heimgeschichte. E-Mail: ulrike.haas@bruderhausdiakonie.de
Gedenktafel erinnert an die Leidtragenden
Zum Gedenken an die Opfer versammelten sich Vorstand und Gäste vor einer Gedenktafel, die dauerhaft in Buttenhausen am Schlossgebäude angebracht ist. Pfarrerin Katrin Zürn-Steffens eröffnete mit einem geistlichen Impuls und Gedenken die Tafel.
Die Publikation von Dr. Wenger ist als Buch im Nomos Verlag erschienen.
Foto im Detail: Dr. Tobias Staib, Fachlicher Vorstand und Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie, Prof. Dr. Roland Müller, Honorarprofessor am Historischen Institut der Universität Stuttgart und ehemaliger Leiter des Stadtarchivs Stuttgart, Dr. Sebastian Wenger, Historiker und Autor der wissenschaftlichen Publikation, Prof. Dr. Bernhard Mutschler, Theologischer Vorstand.