Mit Geschichten die Erinnerung wachhalten

Wie gelingt Erinnern, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Schülerinnen und Schüler des Friedrich-List-Gymnasiums gaben im Theater Tonne eine Antwort.
Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem 27. Januar, kommen in Reutlingen traditionell Menschen zusammen, um die Erinnerung an die Geschichte lebendig zu halten und das „Nie wieder“ zu bekräftigen. Die Gustav Werner Stiftung, heute BruderhausDiakonie, hatte die erste Reutlinger Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus im Jahr 1996 noch allein organisiert. Am diesjährigen 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz waren elf weitere Organisationen an den Vorbereitungen des Abends beteiligt. Rund 250 Menschen kamen am 27. Januar 2025 in das Theaterhaus Tonne.
Den Opfern emotional nahekommen
„Aus Geschichte lernen bedeutet aus Geschichten lernen“, sagte Theater-Intendant Enrico Urbanek. Rund 20 Schülerinnen und Schüler des Reutlinger Friedrich-List-Gymnasiums hatten sich die Lebensgeschichte von drei aus Reutlingen Deportierten erarbeitet und stellten sie szenisch dar: Iwan Ischtuschuk, der sich fragte, warum er überlebt hatte, aber seine Brüder nicht. Friedrich Laage, der der Schule verwiesen wurde, weil er an Epilepsie litt. Fritz Wandel, der seine Zeit in Dachau als einen „Weg durch die Hölle“ beschrieb. Die Jugendlichen machten sich auch Gedanken, welche Gemeinsamkeit sie mit den Opfern hatten. Menschen von damals so nahe zu kommen, dass sie unser Handeln beeinflussen, setze eine emotionale Verbindung voraus, sagte Pfarrerin Katrin Zürn-Steffens, Leitung Stiftungsmanagement Theologie und Ethik der BruderhausDiakonie.
Eine Aufforderung zu handeln
Für die jungen Leute sei es kein einfacher Weg gewesen, zu erzählen, wie das Leben von Iwan Ischtschuk, Friedrich Laage und Fritz Wandel aussah. Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus erfasse Geschichte mit dem Verstand, die Lebensgeschichten berühren das Herz. Die Jugendlichen machten durch ihre szenische Aufführung die Lebens- und Familiengeschichten begreifbar, sagte die Pfarrerin. So komme zu Verstand und Herz noch die Hand – eine Aufforderung zu handeln. Ganz im Sinne des Theologen und Gründervaters der BruderhausDiakonie Gustav Werner: „Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert.“
„Den gesunden Menschenverstand benutzen”
Intendant Urbanek mahnte: „Die Zeit ist aus den Fugen geraten.“ Politisch Verhandeltes werde mit Kurznachrichten auf Social Media-Kanälen außer Kraft gesetzt. „Wir dürfen nicht aufhören, den gesunden Menschenverstand zu benutzen. Wir müssen uns um Politik kümmern, sonst funktioniert Demokratie nicht.“ Christian Lawan, Vorsitzender des Kirchengemeinderats der Auferstehungskirche, betonte: „Wer sich dazu herablässt, die Erinnerung zu verdunkeln, der tötet die Opfer ein zweites Mal.“ Katrin Zürn-Steffens sagte: „Das Heute ist von Angst geprägt.“ Die Gesellschaft sei nach rechts gerückt. „Wir fürchten um unsere Demokratie.“ Eine lebendige Erinnerungskultur habe eine vielfältige und offene Gesellschaft als Ziel.
Musikalisch die Geschichte aufgegriffen
Gitarrist Thomas Maos und Fried Dähn am klassischen und E-Cello vertonten die dunkelsten Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus, gaben Melancholie einen Klang und umrahmten so die Gedenkveranstaltung musikalisch.