Mehr Geld für Integrationsarbeit gefordert
Der Jugendmigrationsdienst berät und begleitet junge Zuwanderer. Forderung an die Politik: Mittel für Integrationsleistungen dürfen nicht gekürzt werden.
Als Artem Kotov 2022 aus der Ukraine floh und nach Deutschland kam, hatte er die Mittlere Reife in der Tasche und einen Plan: Der damals 16-Jährige wollte studieren. In der Ukraine ist das mit dem mittleren Bildungsabschluss möglich. In Deutschland nicht, erfuhr er von seiner Beraterin beim Jugendmigrationsdienst. Artem Kotov erzählte seine Integrationsgeschichte in fließendem Deutsch bei einem Gespräch mit den Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Dr. Martin Rosemann und Michael Donth am 16. September 2024 im Gustav Werner Forum in Reutlingen. Eingeladen hatten der Jugendmigrationsdienst (JMD) der BruderhausDiakonie sowie die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte (MBE) des Diakonieverbands Reutlingen und des Caritas-Zentrums Reutlingen.
Geld verdienen und unabhängig vom Jobcenter sein
Artem Kotov lernte Deutsch in der Vorbereitungsklasse im Friedrich-List-Gymnasium Reutlingen, wechselte aufgrund seiner schnellen Fortschritte bald in die Regelklasse und erhielt nach zwei Jahren die Mittlere Reife in Deutschland. Abitur möchte er vorerst nicht machen. Er habe erkannt, sagte er, „dass es keine gute Idee ist, an die Uni zu gehen, weil mir die Sprachkenntnisse dafür fehlen“. Artem Kotov bewarb sich mit Hilfe des Jugendmigrationsdienstes auf Ausbildungsplätze im IT-Bereich. Ohne Erfolg. Derzeit arbeitet er als Produktionshelfer. „Er möchte Geld verdienen und unabhängig vom Jobcenter sein”, berichtete Tatjana Naumann, JMD-Beraterin bei der BruderhausDiakonie. Nächstes Jahr will er sich erneut um einen Ausbildungsplatz bewerben.
Rosemann: „Deutschland ist auf Einwanderung angewiesen“
Für Johannes Griesinger, Leitung JMD bei der BruderhausDiakonie, ist Artem Kotovs Geschichte ein Beispiel für die Ungleichbehandlung von Ausbildungssuchenden ohne und mit Migrationserfahrung. Gruppenangebote und individuelle Beratungen des Jugendmigrationsdienstes unterstützen junge Zugezogene. Beate Müller-Gemmeke sagte: Das Beispiel zeige, „wie notwendig und wichtig der Jugendmigrationsdienst mit seinen Beratungsangeboten und seiner Begleitung ist". Er baue eine Brücke in die Arbeitswelt. Dr. Martin Rosemann betonte: „Wir sind in Deutschland auf Einwanderung angewiesen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.“ Von den in den Jahren 2015/2016 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten hätten prozentual ebenso viele eine Arbeit wie gleichaltrige Deutsche.
Staib: „Jugendmigrationsdienste sind wichtiger denn je“
Der Jugendmigrationsdienst, Anlaufstelle für 12- bis 27-Jährige, und die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte, die ab dem 28. Lebensjahr zuständig ist, tragen durch ihre Beratungs- und Begleitungsleistungen sowie ihre gute Vernetzung zu einer gelingenden Integration bei. Über 600 Menschen mit Migrationshintergrund suchten 2023 eine Beratungsstelle der BruderhausDiakonie, des Diakonieverbands oder der Caritas im Landkreis Reutlingen auf. Die drei Träger klagen seit Jahren, dass ihre Arbeit in diesem Bereich unterfinanziert sei und die Mittel des Bundes nicht ausreichten. Dr. Tobias Staib, Fachlicher Vorstand und Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie, teilte mit: „Kürzungen im Bundeshaushalt sind nicht durch uns Träger aufzufangen. Diese Rechnung wird nicht aufgehen, stattdessen wird es spürbare Einschnitte in den Angeboten geben.“ In Zeiten vielfältiger Krisen und Kriege seien die Jugendmigrationsdienste wichtiger denn je, sowohl für junge Menschen als auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dr. Joachim Rückle, Geschäftsführer Diakonieverband Reutlingen, betonte: „Die Gesellschaft ist auf gelingende Integration angewiesen. Menschen, die zu uns kommen, brauchen Hilfestellungen.“ Die Qualität und positive Wirkung des Jugendmigrationsdienstes und der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte lebten von Kontinuität, Verlässlichkeit und aktiven Netzwerken, aber auch von der Unabhängigkeit und Neutralität des Angebots. Unter Zugezogenen, die schlechte Erfahrung mit staatlichen Behörden gemacht haben, sei das Vertrauen zu einer unabhängigen Beratungsstelle größer. “Die jährlich wiederkehrende Diskussion um Kürzungen in der Integrationsarbeit entwertet diese Arbeit.” Vielmehr sei eine langfristige, auskömmliche Finanzierung von Bundesseite sicherzustellen, so die Forderung der drei kirchlich-sozialen Träger an die Politiker.
An der Arbeitsstelle Deutsch lernen
Erfolgreiche individuelle Unterstützung gelingt vor allem mit geschultem Personal – ein weiteres Beispiel für gelungene Integration: Nataliia Starovoit kam vor zwei Jahren mit ihrer heute 8-jährigen Tochter aus der Ukraine nach Deutschland. Die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte half ihr bei der Suche nach einer Wohnung, einem Schulplatz sowie einer Arbeitsstelle. „Deutsch zu lernen, fiel mir schwer“, berichtete die Mutter. Als sie „alles hinwerfen wollte“, habe die Beraterin sie motiviert dranzubleiben. Starovoit bot über einen Verein ehrenamtlich Nähkurse für geflüchtete Menschen an und arbeitet mittlerweile Vollzeit in einem Betrieb als Näherin. In Gesprächen mit ihren Kolleginnen verbessert sie kontinuierlich ihre Deutschkenntnisse.
Bild im Detail (von links): Artem Kotov (Geflüchteter), Dr. Martin Rosemann (SPD-Bundestagabgeordneter), Tatjana Naumann (JMD-Beraterin bei der BruderhausDiakonie), Dr. Joachim Rückle (Geschäftsführer Diakonieverband Reutlingen), Lisa Kappes-Sassano (Leitung Caritas Region Fils-Neckar-Alb), Gerd Aigeltinger (Migrationsberater Caritas-Zentrum Reutlingen), Beate Müller-Gemmeke (Bundestagsabgeordnete der Grünen für den Landkreis Reutlingen), Olena Schick (Migrationsberaterin Diakonieverband Reutlingen), Johannes Griesinger (Leiting JMD bei der BruderhausDiakonie), Nataliia Starovoit (Geflüchtete) und Michael Donth (CDU-Bundestagsabgeordneter).