Hilde Krauss* liebt Engel. Früher hat sie die Himmelsbotschafter auch gern gemalt. Davon zeugen mehrere Bilder in ihrem Zimmer in der Fachpflege der Behindertenhilfe Neckar-Alb der BruderhausDiakonie in Reutlingen – die Engel sind darauf in einem kräftigen Gelb dargestellt. Immer mal wieder nehmen die Betreuer eines der Bilder von der Wand und betrachten sie gemeinsam mit der Klientin, die das Bett nicht mehr verlassen kann. An diesem Vormittag hat Pflegehelfer Maik André Schönhense Zeit, um mit Frau Krauss ein mit Bildern von Marc Chagall illustriertes Büchlein durchzublättern. Sein Titel: „Ein Engel dir zur Seite“. Die 87-jährige Klientin lebt seit einigen Jahren in der Wohngemeinschaft Panorama der Fachpflege der Behindertenhilfe Neckar-Alb zusammen mit 17 weiteren Menschen mit geistiger Behinderung, die größtenteils in fortgeschrittenem bis hohem Alter sind.

WG Panorama verfügt über Dachterrassen mit Blick über die Stadt
Die Wohngemeinschaft gehört zum Seniorenzentrum Gustav-Werner-Stift der BruderhausDiakonie Reutlingen, das unweit von Bahnhof und Altstadt zentral in der Kreisstadt gelegen ist. Das oberste Stockwerk des langgestreckten Gebäudes ist mit 18 Einzelzimmern und einer großzügigen Ess- und Aufenthaltszone ausgestattet – in den darunterliegenden Stockwerken sind Wohngruppen des Seniorenzentrums untergebracht. Zudem verfügt die Einrichtung über zwei großzügige Dachterrassen mit Blick über die Stadt. Noch im vergangenen Jahr konnte Hilde Krauss, die halbseitig gelähmt ist und an Diabetes leidet, an den tagesstrukturierenden Angeboten teilnehmen. Das ist nun nicht mehr möglich. Die Betreuungsassistentin Ilona Frank nutzt dennoch jede Gelegenheit, Frau Krauss zu aktivieren, zu stimulieren, Abwechslung in ihren Alltag zu bringen. Die Klientin singe immer noch mit Begeisterung christliche und volkstümliche Lieder, genauso liebe sie es, wenn man ihr vorlese oder ein Gebet mit ihr aufsage.

Klienten sollen trotz Behinderung ein möglichst normales Leben führen
„Die Menschen, die hier vollstationär versorgt werden, haben einen erhöhten Pflegebedarf“, sagt der Pflegedienstleiter Roberto Modica. Zu den Klienten zählen Menschen mit Behinderung unterschiedlicher Ausprägung, die zudem meist an altersbedingten Erkrankungen leiden; hinzu kommen psychische Erkrankungen. Teams aus Pflegefachkräften, Pflegehilfskräften,  Betreuungshelfern und -assistenten kümmern sich in drei Schichten rund um die Uhr um die Bewohnerinnen und Bewohner. Eine 24-Stunden-Präsenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei aufgrund der „Schwere der Behinderung und des erhöhten pflegerischen Bedarfs“ unabdingbar, heißt es in der Pflegekonzeption der Einrichtung. Das wichtigste Ziel: die Förderung der Selbstständigkeit und Teilhabe an der Gemeinschaft; der Mensch solle trotz seiner Behinderung und seinem zusätzlichen pflegerischen Bedarf „ein möglichst normales Leben führen können“, die Würde stehe bei allen Handlungen im Vordergrund.

Tagesstrukturierende Angebote, Feste, Ausflüge und Andachten
Zu den Leistungen der Einrichtung gehören Grund- und medizinische Behandlungspflege, Essensversorgung, hauswirtschaftliche Dienste, aber auch Beschäftigungs- und Betreuungsangebote. Klienten, die noch gut zu Fuß oder mit Hilfe von Rollstühlen oder Rollatoren mobil sind, nehmen an den tagesstrukturierenden Angeboten teil. Unter Anleitung von Mitarbeitern wird gemalt, gespielt, gebastelt, gesungen und musiziert. Ein fester täglicher Baustein ist die „Zeitungsrunde“, bei der den Klienten aus der Lokalzeitung vorgelesen wird. Zudem begleiteten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Klienten bei Besorgungen in der Stadt, besuchten mit ihnen den Wochenmarkt oder unternähmen Ausflüge, fügt Roberto Modica hinzu. Weitere Angebote seien jahreszeitliche Feste, Andachten und Gottesdienste sowie Palliativpflege und Sterbebegleitung.

Fähigkeiten erhalten oder verloren gegangene wiederherstellen
Bei Menschen, die dauerhaft bettlägerig sind – so wie Hilde Krauss –, sei es das Ziel, ihre noch vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern oder verlorene wiederherzustellen, und, wo immer es geht, Teilhabe zu ermöglichen, sagt Pflegedienstleiter Modica. „Bei der Betreuung von Langzeit-Bettlägerigen gehen wir auf die individuellen Interessen der Klienten ein.“ So lege eine der Klientinnen viel Wert auf ihr Äußeres. „Bei ihr setzen wir beispielsweise Handmassage mit ätherischen Ölen ein.“ Bei Hilde Krauss orientiert sich die Betreuung an ihrer Naturverbundenheit, ihrem christlichen Glauben und ihrer Liebe zur Musik und zu Gedichten. „Wenn ich ihr Gedichte vorlese, kann sie vieles auswendig, und wenn wir zusammen eine CD anhören, lässt sie ihre Hände tanzen“, beschreibt Ilona Frank.

Der intensive Pflegebedarf fordert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
„Man kann fast jede Klientin, jeden Klienten noch mobilisieren“, ist Roberto Modica überzeugt. „Wenn ihre Verfassung es zulässt, holen wir Bettlägerige im Bett aus dem Zimmer, damit sie bei dem einen oder anderen gemeinschaftlichen Angebot doch dabei sein können, etwa an Weihnachten“, berichtet der 35-jährige examinierte Altenpfleger. Für die Pflegekräfte ist der intensive Pflegebedarf in der Fachpflege fordernd – physisch wie psychisch. „Unsere Mitarbeitenden brauchen deshalb eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit.“ Dies versucht er bei den Dienstplänen zu berücksichtigen, indem er nicht zu viele Arbeitstage am Stück einplant und auf regelmäßige Perioden mit freien Tagen achtet.

* Name von der Redaktion geändert

Autorin: Ulla Hanselmann