In der Reutlinger Oberlinschule werden pro Schuljahr fünf bis acht sogenannte Systemsprenger unterrichtet, berichtet Daniel Reiber, Leiter des Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums der BruderhausDiakonie. Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche, für die keines der bestehenden Angebote zu passen scheint. Allein könne die Schule bei diesen Kindern und Jugendlichen nicht viel ausrichten. Die Oberlinschule sei daher Teil eines eng vernetzten Systems, zu dem neben der Oberlin-Jugendhilfe der BruderhausDiakonie auch psychiatrische Hilfen und andere Träger gehörten. „Man versucht ständig, flexible Lösungen zu finden“, sagt Constance Hosp, Bereichsleiterin stationäre Hilfen zur Erziehung bei der Oberlin-Jugendhilfe. „Wenn man nicht mehr weiterkommt, muss man sich fragen, was machen wir jetzt, wie müssen wir unser Angebot verändern, damit wir dem Kind gerecht werden?“, erklärt Hosp im Gespräch mit Schulleiter Reiber und der Bereichsleiterin teilstationäre und ambulante Hilfen, Wiebke Urich.

Trotz Niederlagen Kinder und Jugendliche nicht aufgeben

Jedes Kind und jeder Jugendliche stellen an die Systeme Oberlinschule und Oberlin-Jugendhilfe eigene Herausforderungen. Da ist der siebenjährige Max (Name geändert), der ständig wegläuft, Dinge stiehlt und Feuer legt, sich mit anderen Kindern prügelt. Max sei in einer Eins-zu-eins-Betreuung intensiv ambulant unterstützt worden, sagt Wiebke Urich. Auch mit der Mutter hätten die Fachkräfte viel gearbeitet. Ein anderes Beispiel ist die 15-jährige Mia (Name geändert), die aus einer sogenannten Hochrisikofamilie kommt und in einer Wohngruppe der Oberlin-Jugendhilfe lebt. Sachbeschädigungen und ständige Konflikte hätten die Anfangszeit geprägt, berichtet Constanze Hosp. Allmählich könnten die Fachkräfte bei Mia eine Stabilisierung feststellen. „Man braucht Vernetzung, Kleinschrittigkeit und einen langen Atem“, resümiert Daniel Reiber. Den Weg trotz Niederlagen mit den Kindern weiterzugehen, sei für den Erfolg ihrer Arbeit entscheidend.

Thema „Systemsprenger“ bei der Gesamtlehrerkonferenz

Dem Gespräch vorausgegangen war die Gesamtlehrerkonferenz der Reutlinger Oberlinschule. Zum Auftakt der diesjährigen Veranstaltung hatten sich die Lehrkräfte das Drama „Systemsprenger“, einen viel beachteten deutschen Spielfilm von 2019, angeschaut. Der Film thematisiert die seelische Not eines neunjährigen Mädchens. Benni bringt alle Menschen und Systeme, die mit ihr zu tun haben, an deren Grenzen. Ihr Leidensweg vollzieht sich zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie sowie in Heimen und erfolglosen Anti-Aggressions-Trainings. „Uns ist es wichtig, jedes Mal ein gemeinsames Thema zu haben, das uns bewegt und das wir bewegen wollen“, erläuterte Schulleiter Daniel Reiber. 2020 war es das Thema Systemsprenger.

Experte sieht riesige Chance für die Institution Schule

Als Gastredner betonte Werner Bleher, Professor für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, dass der Begriff Systemsprenger keineswegs zutreffend sei, denn „eigentlich sprengen nicht die Jugendlichen die Systeme, sondern die Systeme kommen an ihre Grenzen.“ Was viele sogenannte Systemsprenger gemeinsam hätten, seien Bindungsstörungen, eine übersteigerte Neigung zu Aggressivität, Perspektivlosigkeit und trotz intellektueller Befähigung häufiges Versagen in Schule und Arbeitswelt. Wie Bleher hervorhob, sehe er hier eine riesige Chance für die Institution Schule, da ein Schulabschluss den Jugendlichen eine wichtige Perspektive geben könne: „Perspektiventwicklung ist ein ganz entscheidender Punkt und ich glaube, da ist die Oberlinschule auf einem richtig guten Weg.“

Angebote der Jugendhilfe finden Sie hier.