Ramona Pichler weiß sich vor Publikum zu äußern. „Ich möchte anderen mitgeben, dass man sich nicht schämen muss“, sagt die junge Frau aus Pliezhausen, die in einer Mensa der BruderhausDiakonie arbeitet. Sie ist eine von sechs Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung, die an dem Qualifizierungsprojekt „ich sag dir was“ teilgenommen haben – ein Projekt, das die Geschäftsstelle Inklusionskonferenz im Landkreis Reutlingen initiiert und die Baden-Württemberg Stiftung gefördert hat. Bei einer Weiterbildung in Kooperation mit der VHS  Reutlingen haben sie in knapp drei Jahren gelernt, sich so zu präsentieren, dass sie ihre Anliegen in Vorträgen und Seminaren vertreten können. Ein Film über das Projekt war nun im Rahmen der Woche der Inklusion am 15. September 2021 im Gustav Werner Forum der BruderhausDiakonie zu sehen. In dem Film stellen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich selbst, ihre Schwierigkeiten im Alltag und ihre Wünsche vor.

Persönliche Qualifizierung und Kenntnisse in Inklusion

„Ich habe jetzt weniger Angst davor, einen Vortrag zu halten“, freut sich Ramona Pichler, die mit ihrem Sohn in einer Pflegefamilie lebt. Über ihre Lebensumstände würde sie gerne einmal vor Ärzten sprechen, sagt die 35-Jährige, damit diese ihre Probleme besser verstehen könnten. Auch in Sachen Inklusion habe sie einiges dazugelernt. So packe sie zum Beispiel mit an, wenn am Bus eine Rampe für Rollstuhlfahrer angebracht werden müsse. Markus Gräter ist ebenfalls für die BruderhausDiakonie, im Bereich Hauswirtschaft, tätig. Er habe schon häufig Diskriminierung erfahren, bedauert Gräter. „Die Menschen können aber nichts für ihre Behinderungen.“ Besonders wichtig sei ihm, dass „Menschen mit Behinderung nicht in Wohnheimen, sondern in normalen Wohnungen oder WGs leben können“. Nikolaus Mantel hat die Selbsthilfegruppe für Psychiatrieerfahrene ins Leben gerufen und engagiert sich unter anderem im Landesbehindertenbeirat. „Ich möchte dazu ermutigen, dass sich Menschen mit psychischen Erkrankungen auf dem ersten Arbeitsmarkt bewerben“, sagt der 63-jährige Reutlinger. „Die Arbeitsbedingungen sollten für sie möglichst stressarm sein. Sie müssen in ihrem Tempo arbeiten können, aber auch nicht unterfordert werden."

Betroffenheit beim Publikum nach der Filmvorführung

Seit dem Abschluss ihrer Weiterbildung 2020 haben die sechs Absolventen Vorträge und Seminare in Institutionen, Einrichtungen und Schulen gehalten. Während der Lockdowns wurde das Projekt online fortgesetzt. „Wir wollen die Betroffenen dazu befähigen, für sich und ihre Rechte zu kämpfen“, erklärt Susanne Blum, Leiterin der Geschäftsstelle Inklusionskonferenz. Heike Goller-Lenz, die für das Projekt verantwortlich ist, betont: „Wir möchten ihnen den Mut geben, selbst das Wort zu ergreifen. Sie haben das Recht, gehört zu werden.“ Eine Klasse der Deutschen Angestellten-Akademie hat sich den Film im Gustav Werner Forum angeschaut. „Es war ein super Einblick“, lobt Nour Othman. Ihre Mitschülerin Türkan Kocyigit reagiert entsetzt, als ein Rollstuhlfahrer im Film berichtet, dass er stundenlang nachts am Bahnsteig habe warten müssen, weil ein Zug ihn nicht mitgenommen habe. „Da kann ja alles Mögliche passieren“, meint sie.

Qualifizierungsprojekt für Menschen mit Handicap geht weiter

„Wir wollen wachrütteln“, beschreibt Projektleiterin Heike Goller-Lenz einen der Kernpunkte des Projekts. Und damit auch andere Menschen mit Behinderung lernen, für ihre Rechte und Interessen einzutreten, ist das Projekt „ich sag dir was“ mit sieben neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Juli 2021 in die zweite Runde gegangen. Die Kosten dafür übernimmt der Landkreis Reutlingen.

Foto im Detail: von links Hans Usemann, Nikolaus Mantel, Ramona Pichler, Markus Gräter, Helga Jansons und Simone Degler-Wahl.